
Bei Kindeswohlgefährdung
Der Umgang mit Fällen in der ärztlichen und psychotherapeutischen Tätigkeit, bei denen eine Kindeswohlgefährdung vermutet wird oder zu vermuten ist, verursacht immer wieder fachliche, aber vor allem auch juristische Handlungsunsicherheiten.
Rechtslage
Die Berufsordnung der Psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten schreibt vor, auf besondere Risiken für Vernachlässigung, Missbrauch oder Misshandlung von Kindern und anderen besonders schutzwürdigen Personen zu achten.
§ 4 Abs. 3 BO LPK RLP: Allgemeine Obliegenheiten
Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sind verpflichtet, im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit auf besondere Risiken für Vernachlässigung, Missbrauch oder Misshandlung von Kindern und anderen besonders schutzwürdigen Personen zu achten und, soweit dies erforderlich ist, auf Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen hinzuwirken; sie arbeiten hierzu insbesondere mit den Einrichtungen und Diensten der öffentlichen und freien Jugendhilfe und dem öffentlichen Gesundheitsdienst zusammen und sollen sich nach ihren Möglichkeiten an den lokalen Netzwerken nach § 3 des Landesgesetzes zum Schutz von Kindeswohl und Kindergesundheit vom 7. März 2008 (GVBl. S. 52, BS 216-6) in der jeweils geltenden Fassung beteiligen.
Die Berufsordnung für die Ärztinnen und Ärzte macht bezüglich des begründeten Verdachts einer Misshandlung, eines Missbrauchs oder einer schwerwiegenden Vernachlässigung eine Ausnahme von der Schweigepflicht im Sinne einer Offenbarungsbefugnis.
§ 9 Abs. 2 BO LAEK RLP: Schweigepflicht
(2) Ärztinnen und Ärzte sind zur Offenbarung befugt, soweit sie von der Schweigepflicht entbunden worden sind oder soweit die Offenbarung zum Schutze eines höherwertigen Rechtsgutes erforderlich ist. Insbesondere gilt die Erlaubnis zur Offenbarung auch bei dem begründeten Verdacht einer Misshandlung, eines Missbrauchs oder einer schwerwiegenden Vernachlässigung. Gesetzliche Aussage- und Anzeigepflichten bleiben unberührt. Soweit gesetzliche Vorschriften die Schweigepflicht der Ärztin oder des Arztes einschränken, soll die Ärztin oder der Arzt die Patientin oder den Patienten darüber unterrichten.
Das Strafgesetzbuch sieht sowohl eine Strafbarkeit bei unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB) als auch bei dem Bruch der Schweigepflicht (§ 203 StGB) vor.
Handlungsorientierung
Es wird von der Ärzte- und Psychotherapeutenschaft in Situationen einer offenbarten oder einer vermuteten Kindeswohlgefährdung ein umsichtiges Vorgehen unter Abwägung sämtlicher Interessen auf fachlicher und juristischer Ebene gefordert.
Es ist zunächst zu prüfen, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt und wenn ja, welche Schritte einzuleiten sind. Während dieses Prozesses ist stets das Wohl der Patientinnen und Patienten im Blick zu behalten und nicht ausschließlich aufgrund eigener Bestürzung über die Umstände zu handeln.
In seinem Beschluss vom 23.11.2016 (Az. XII ZB 149/16) definiert der Bundesgerichtshof die Kindeswohlgefährdung wie folgt:
„Eine Kindeswohlgefährdung im Sinne des § 1666 Abs. 1 BGB liegt vor, wenn eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr festgestellt wird, dass bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind dabei umso geringere Anforderungen zu stellen, je schwerer der drohende Schaden wiegt.“
Bei der Umsetzung dieser Prüfung und Einleitung der erforderlichen Maßnahmen ist die Schweigepflicht zu berücksichtigen. Die Abwägung zwischen Wahrung der Schweigepflicht und Schutz des Kindeswohls bereitet in Situationen einer drohenden Kindeswohlgefährdung häufig Unsicherheiten. Oftmals ist schon unklar, ob überhaupt eine Kindeswohlgefährdung vorliegt.
Um diese Handlungsunsicherheiten zu mindern, wurde im Rahmen der Neuregelungen im Bundeskinderschutzgesetz unter anderem das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) geschaffen, welches für berufliche Geheimnisträger*innen Möglichkeiten eröffnet, über ein abgestuftes Verfahren sich der Beurteilung einer bestimmten Situation im Bereich der Kindeswohlgefährdung durch Kontaktaufnahme mit einer insofern erfahrenen Fachkraft (InsoFa) Stück für Stück anzunähern und Lösungen zu finden. Diese Kontaktaufnahme soll dazu dienen, die Situation richtig einzuschätzen und zu beurteilen und damit die erforderlichen Schritte in die Wege zu leiten.
Nach § 4 KKG ist nachfolgendes dreistufiges Vorgehen bei einem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung vorgesehen:

Auf Stufe 2 kann sowohl die anonymisierte Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft bei dem örtlich zuständigen Jugendamt erfolgen oder aber die Beratung über eine anonyme Hilfehotline in Anspruch genommen werden, die ebenfalls über entsprechend geschultes Personal verfügen. Die anonyme Beratung außerhalb des örtlich zuständigen Jugendamtes sollte immer dann gewählt werden, wenn es sich um Konstellationen handelt, in denen zum Beispiel das örtliche Jugendamt bereits involviert ist oder es sich um eine ortsbekannte Familie handelt, so dass die Anonymität auf Stufe 2 nicht gewahrt werden kann.
Als anonyme Anlaufstelle ist zum Beispiel das Hilfetelefon „Sexueller Missbrauch“ (0800-22 555 30), im Netz zu finden unter https://nina-info.de/hilfetelefon.html, zu nennen, das eine bundesweite, kostenfreie und anonyme Anlaufstelle für Betroffene, Angehörige sowie für Fachkräfte bietet.
Oder auch das Hilfeportal „Missbrauch“, welches das Auffinden von Fachkräften/Fachberatungsstellen unterstützt https://www.hilfeportal-missbrauch.de/hilfen-fuer/fachkraefte.html.
Unabhängig davon, wie schließlich im Rahmen einer Abwägung zwischen der Anzeige bzw. Offenlegung der Kindeswohlgefährdung und der bestehenden Schweigepflicht gegenüber Patientinnen und Patienten und gegebenenfalls Bezugspersonen die Entscheidung getroffen wird, sollte diese sorgfältig dokumentiert und stets unter Berücksichtigung der Belange der Patientinnen und Patienten erfolgen und diese in den Prozess altersgerecht und soweit möglich einbezogen werden.
In Ihre Überlegungen und dann auch die Dokumentation sollte einfließen:
- alle Offenbarungen, Aussagen Dritter, beobachtete Situationen, erhobene Befunde und die sich daraus ergebenden Einschätzungen und Diagnostiken für einen gewichtigen Anhaltspunkt
- die Einschätzung zum Vorliegen als auch zum Nicht-Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung
- welche Gespräche mit Kindern und Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten geführt wurden, um Hilfe und Unterstützungen anzubieten sowie mögliche Gefahren abzuwenden
Wenn das Jugendamt auf Stufe 3 informiert wurde, sind die Personensorgeberechtigten grundsätzlich ebenfalls zu informieren oder das Jugendamt darüber in Kenntnis zu setzen, aus welchen Gründen eine Mitteilung an die Personensorgeberechtigten nicht erfolgt ist und nicht erfolgen sollte (z.B. einer der Personensorgeberechtigten ist in die Kindeswohlgefährdung involviert).
Es ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass bei Vorliegen der Anforderungen von Stufe 3 datenschutzrechtlich eine Offenbarungsbefugnis besteht und es der Ärzte- und Psychotherapeutenschaft sogar obliegt, die Schweigepflicht zu brechen, wenn sie Kenntnis von einer Kindeswohlgefährdung erlangen und eine Abhilfe anderweitig nicht möglich ist.